
104 Anfragen hat die Leiterin der Rechtsdurchsetzung beim Klagsverband im Jahr 2020 beantwortet. Diese Anfragen sind sehr unterschiedlich: Es kann sich um eine kurze Rechtsauskunft oder rechtliche Einschätzung für einen Mitgliedsverein handeln bis zu umfangreichen Sachverhalten, die geprüft, beurteilt und für mögliche Gerichtsverfahren vorbereitet werden müssen.
Im Jahr 2020 haben uns viele Anfragen zu den Ausnahmen bei der Maskenpflicht erreicht. Besonders betroffen waren gehörlose und schwerhörige Personen. Trotz der geltenden Ausnahmen wurden wir häufig informiert, dass Geschäfte ohne Maske den Einlass verweigern oder Dienstleistungen nicht angeboten werden. Bei der rechtlichen Einschätzung stellte sich meistens die Frage der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen zum Schutz vor der Pandemie zur Nicht-Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen.
Von den zahlreichen Diskriminierungsfällen, die unsere Mitgliedsvereine an die Rechtsdurchsetzung herantragen, werden meistens nur einige zu Gerichtsverfahren. Nicht jeder Fall eignet sich dafür, nicht immer ist die Person, die eine Diskriminierung erlebt hat, bereit oder in der Lage ein Gerichtsverfahren auf sich zu nehmen und auch die Kosten des Verfahrens spielen eine Rolle.
Der Klagsverband führt in erster Linie Musterverfahren. Vor einem Verfahren muss eine Reihe von Fragen beantwortet werden:
Welches Recht kommt zur Anwendung? Wie hoch ist das Prozesskostenrisiko? Was erwartet sich die betroffene Person von einem Gerichtsverfahren? Eignet sich eine richterliche Entscheidung über den Einzelfall hinaus für die Sensibilisierungs- und Aufklärungsarbeit des Klagsverbands und die Beratungspraxis seiner Mitgliedsorganisationen?
Diese Fragen werden von der Juristin des Klagsverbands geprüft. Sie spricht auch eine Empfehlung aus, ob es sinnvoll ist, ein Gerichtsverfahren zu führen oder nicht. Die letzte Entscheidung hat ein internes Gremium, der „Klagsausschuss“.
Schlichtungen
Im Jahr 2020 waren wir bei zwei Schlichtungsverfahren beteiligt. In einem Fall hat eine Rollstuhlfahrerin mit einem öffentlichen Bad in Salzburg geschlichtet, das nicht barrierefrei ist. Die Schlichtung ist erfolgreich verlaufen, das Bad war bereit die Mängel bei der Barrierefreiheit umfassend zu beheben.
Im zweiten Fall schlichtet der Klagsverband mit dem BM für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Es geht dabei um den Anspruch auf Schulassistenz für Schüler_innen mit Behinderungen. Diese Schlichtung ist noch nicht abgeschlossen.
Abgeschlossenes Verfahren
Muslimische Bewerber_in abgelehnt – Erzdiözese Wien befriedigt Ansprüche noch vor Verfahrensbeginn (unser Verfahren mit ZARA):
Der erste Gerichtstermin hat bei diesem Verfahren gar nicht stattgefunden, weil die Erzdiözese Wien noch vorher die Ansprüche der Klägerin finanziell abgegolten hat. Es gibt somit leider kein Urteil in dieser so interessanten Frage.
Worum ging es? Die Klägerin, eine Wiener Muslima, wurde als Bewerber_in für die Sozialberatung in einem Mutter-Kind-Heim einer Stiftung der Erzdiözese Wien abgelehnt. Der ausgebildeten Sozialberaterin wurde gesagt, dass sie aufgrund ihrer Religion für eine kirchliche Organisation nicht in Frage komme und sie als Muslima vermutlich nicht neutral beraten könne. Bereits in der Stellenausschreibung hatte die Sozialberatungseinrichtung eine „kirchliche Beheimatung“ von den Bewerber_innen verlangt.
Aus Sicht des Klagsverbands muss die im Gleichbehandlungsgesetz (GlBG) vorgesehene Ausnahmebestimmung für religiöse Organisationen eng ausgelegt werden. Eine bestimmte Religionszugehörigkeit stellt in diesem Fall keine wesentliche und gerechtfertigte Anforderung für diese Tätigkeit dar.
Neue Klagen
Barrierefreie Zimmer nur gegen Aufpreis (unser Verfahren mit knack:punkt):
Bei diesem Verfahren hat schon die erste Tagsatzung stattgefunden, es wird im Jahr 2021 fortgesetzt. Die Klägerin ist Rollstuhlfahrerin und wollte ein Zimmer in einem Haus einer größeren Hotelkette buchen. Die von ihr gewünschte Zimmerkategorie ist jedoch nicht barrierefrei, dafür müsste sie einen Aufpreis für eine höhere Zimmerkategorie zahlen.
Diese Form der Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, die auf barrierefreie Zimmer angewiesen sind, ist weit verbreitet. Zimmer können nicht frei gewählt werden, bzw. muss für Barrierefreiheit ein Aufpreis gezahlt werden.
59-jährige erhält aufgrund ihres Alters keine Fördermaßnahme des AMS (unser Verfahren mit DIE JURISTINNEN):
Dieses Verfahren haben wir wieder aufgenommen, nachdem unsere Klage gegen die Republik Österreich als beklagte Partei vom Gericht abgewiesen wurde. Nun haben wir das AMS geklagt und gehen davon aus, dass die Zuständigkeit somit geklärt ist.
Es geht um eine 59-jährige Frau, die aufgrund ihres Alters vom AMS keine Fördermaßnahme finanziert bekommt. Rechtlich stellt das aus unserer Sicht eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und des Alters dar: Das gesetzliche, für Frauen und Männer noch unterschiedliche, Pensionsantrittsalter darf kein Argument sein, denn bei einer Kündigung (gegen den Willen der Arbeitnehmerin) ist das nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs auch aufgrund des Geschlechts diskriminierend.
Laufende Verfahren
Türkischer Staatsbürger in Oberösterreich kann formale Anforderungen für den Nachweis der Deutschkenntnisse nicht erfüllen (unser Verfahren mit migrare):
Dieses Gerichtsverfahren beschäftigt sich wieder mit der Oberösterreichischen Wohnbeihilfe. Nachdem der Klagsverband das Land Oberösterreich bereits zweimal erfolgreich geklagt hat, haben wir erneut eine Klage wegen der Wohnbeihilfe eingebracht.
Diesmal geht es nicht um den Nachweis von Erwerbszeiten, sondern um Deutschkenntnisse. Seit dem Jahr 2018 müssen nicht-österreichische Staatsbürger_innen in Oberösterreich mit einem Zertifikat nachweisen, dass sie die deutsche Sprache beherrschen. Für viele Personen ist das schwierig: Auch wenn die Betroffenen einen Deutschkurs machen, dauert es bis zu einem Jahr oder länger, bis sie das verlangte Zertifikat erhalten. Somit werden Personen aus Drittstaaten wieder benachteiligt.
Nachdem das erstinstanzliche Gericht eine Diskriminierung festgestellt hat, läuft derzeit das Berufungsverfahren beim Landesgericht Linz. Zur Klärung der im Fall wesentlichen europarechtlichen Fragen ist eine Vorlage zur Vorabentscheidung beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) notwendig. Hier noch einmal mehr zu diesem Verfahren.