Bei geschätzten 1,7 Prozent der Weltbevölkerung sind die biologischen Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig den Kategorien „weiblich“ oder „männlich“ zuzuordnen. Viele Personen, die intergeschlechtlich geboren werden, erleben schon als Säuglinge massive Menschenrechtsverletzungen: mit geschlechtsnormierenden Operationen wird versucht, sie in das Mann/Frau-Schema zu pressen. Ihre Intergeschlechtlichkeit wird nicht oder nicht als gleichwertig anerkannt. Die operative Zuordnung zu einem von zwei Geschlechtern erfolgt meistens fremdbestimmt, denn die Entscheidung über operative Eingriffe bei Minderjährigen treffen in der Regel die Eltern.
Auch das Recht kennt nur die Geschlechter „männlich“ und „weiblich“. Inter* – so der menschenrechtskonforme Begriff aus der Community – sind deshalb in zahlreichen Rechtsbereichen vom Personenstands- über das Namens- und Eherecht bis zum Adoptionsrecht nicht gleichgestellt. Auch beim Schutz vor Diskriminierung ist die jetzige rechtliche Situation mehr als unzulänglich.
Rechtliche Leerstelle
Das bestätigte auch Andrea Ludwig. Ludwig leitet die Rechtsdurchsetzung beim Klagsverband. „Das Gleichbehandlungsrecht in seiner jetzigen Form sieht für intergeschlechtliche Personen eigentlich keinen wirksamen Schutz vor, weil sich der Diskriminierungsgrund Geschlecht immer auf männlich oder weiblich bezieht“, erklärte Ludwig im Eröffnungsstatement. Das Gleichbehandlungsgesetz verbiete Benachteiligung aufgrund des Geschlechts im Bereich der Arbeitswelt und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. Bei Verstößen sei ein Schadenersatz vorgesehen, bislang habe aber noch keine intergeschlechtliche Person ein Verfahren wegen Diskriminierung angestrengt. Es sei auch keine Judikatur zu diesem Thema vorhanden, so Ludwig.
Die Wirkmächtigkeit der Kategorie Geschlecht
Über die Wirkmächtigkeit der Kategorie Geschlecht konnte Lucie Veith einiges berichten. Als erster Vorsitzender des Vereins Intersexuelle Menschen e.V. extra für die Veranstaltung aus Deutschland angereist, hat Lucie Veith auch anhand der eigenen Lebensgeschichte aufgezeigt, wie intergeschlechtliche Personen oft schon ab ihrer Geburt nicht nur pathologisiert, sondern systematisch in die Kategorien männlich oder weiblich gepresst werden. Dass es weit mehr als zwei Geschlechter gibt, liegt für Lucie Veith auf der Hand. Intersexuelle Menschen e.V. hilft mit Beratung und Selbsthilfegruppen für Personen, die oft schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen erleben. Aber auch für politische Gremien von der UNO abwärts ist der Verein Ansprechperson, wenn es um einen menschenrechtskonformen Umgang mit der Lebenssituation von inter* geht.
Gericht muss über „drittes“ Geschlecht entscheiden
Die unfreiwilige Pathologisierung des eigenen Körpers und den Zwang sich für eines von zwei Geschlechtern zu entscheiden, hat auch Alex Jürgen erlebt und in der Filmdokumentation „Tintenfischalarm“ mit Regisseurin Elisabeth Scharnag öffentlich gemacht. Beim Verein Vimö – Verein intergeschlechtlicher Menschen Österreich – engagiert sich Alex Jürgen für die Gleichstellung von Personen, die nicht eindeutig den herkömmlichen Kategorien von männlich oder weiblich zuzuordnen sind. Mit einer Gerichtsklage will Alex Jürgen nun über ein drittes Geschlecht beim Geschlechtseintrag entscheiden lassen. Alex Jürgen hatte am Standesamt Steyr beantragt, den Geschlechtseintrag im Geburtenbuch auf „inter“, „anders“ oder „x“ zu berichtigen. Über die Beschwerde gegen die Ablehnung des Standesamtes entscheidet nun das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich.
Bildung, Politik, Recht und Medizin
In Österreich sei es laut Personenstandsrecht möglich, einen geschlechtsneutralen Vornamen für ein Kind zu wählen, erklärte Eva Matt am Podium. Eva Matt hat für die Plattform Intersex Österreich gesprochen. Dieses unabhängige Netzwerk hat sich zum Ziel gesetzt, die Lebenssituation intergeschlechtlicher Menschen in Österreich zu verbessern. Eine Arbeitsgruppe beschäftigt sich dafür mit der Inklusion des Themas Intergeschlechtlichkeit in Bildungsinstitutionen. Aber auch die psychosoziale Beratung und Begleitung für Inter*Personen gehört zum Angebot. Die Arbeitsgruppe Recht und Politik leistet rechtliche Informationsvermittlung und versteht sich als politische Interessensvertretung. Das Angebot wird durch eine Arbeitsgruppe abgerundet, die sich mit medizinischen Fragen beschäftigt.
Großer Bedarf an Sensibilisierungsmaßnahmen
Die Bandbreite von Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierungen an intergeschlechtlichen Personen ist also groß, das war an diesem Punkt der Diskussion für alle Beteiligten klar. Unwissen und Vorurteile bringen für Personen, die mit einer von zigtausend Geschlechtsvarianten geboren wurden, oft einen lebenslangen Leidensweg mit sich. Was also tun, um für die Rechte intergeschlechtlicher Personen zu sensibilisieren? Wolfgang Wilhelm von der Wiener Antidiskriminierungsstelle für gleichgeschlechtliche und transgender Lebensweisen (WASt) berichtete von verschiedenen Trainings- und Sensibilisierungsmaßnahmen, die von der WASt durchgeführt werden. Wobei die Auseinandersetzung mit dem Thema auch bei der WASt erst in jüngster Zeit intensiver geworden ist. Es bleibt also noch viel zu tun, damit Geschlechtergrenzen überwunden werden können. (da)
Mitarbeit am Text: Christian Berger
Fotos: WASt
Der Klagsverband diskutiert weiter:
am 29. September 2016, 18.00 Uhr in Graz: Im Spannungsfeld von politischer Rhetorik und österreichischem Recht. Sprachverbote und verpflichtende Deutschkenntnisse als Voraussetzungen für öffentliche Leistungen.
am 1. Dezember 2016, 18.00 Uhr in Linz: Betrifft: UNO-Individualbeschwerden. Handlungsanleitung für ein vernachlässigtes Rechtsinstrument.