Der Klagsverband hat diskutiert – eine Nachlese
Das Video auf YouTube zeigt die Begrüßung der Diskussions-Teilnehmer*innen.
Das Thema Diskriminierung und Ungleichbehandlung im Schulsystem hat den Klagsverband schon im Dezember 2021 bei „Der Klagsverband diskutiert“ beschäftigt. Allerdings reicht eine Veranstaltung nicht, um dem Umfang des Themas gerecht zu werden. Am 10. März 2022 haben wir deshalb mit Natascha Khakpour, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz-Landau, dem Professor für inklusive Pädagogik Tobias Buchner und der Leiterin der Rechtsdurchsetzung beim Klagsverband Theresa Hammer über die Datenlage und praktische Aspekte des Themas gesprochen.
Das Gespräch wurde von Daniela Almer moderiert, ÖGS-Dolmetscher*innen waren Elke Schaumberger und Patricia Brück. Eine Aufzeichnung der Diskussion steht nicht in voller Länge zur Verfügung. Nachfolgender Text ist eine Zusammenfassung.
Mehrsprachigkeit, Inklusion und die Praxis
In der Diskussion vom 10. März ist es nicht ausschließlich um Inklusion gegangen. Wir haben eine weitere Diskriminierungsdimension dazu genommen, nämlich jene der Mehrsprachigkeit und des Migrationshintergrunds und wir haben auch die Praxis genauer betrachet, nicht zuletzt die Praxis der pädagogischen Bildung und Professionalisierung.
Natascha Khakpour
Natascha Khakpour konnte berichten, dass die Statistik Austria erhebt, wieviele Schüler*innen an österreichischen Schulen eine „nicht deutsche Umgangssprache“ haben, so wird das in diesem Rahmen bezeichnet. Im Schuljahr 2018/19 waren das 28,8 Prozent in Österreich und 55 Prozent in Wien. Ihrer Meinung nach, sage das aber wenig über sprachliche Vielfalt und Sprachgebrauch aus.
Zahlen würden aber auch Auskunft darüber geben, welche Schulformen Kinder mit so genannter „nicht deutscher Umgangssprache“ besuchen. Und dabei zeige sich, dass zB in der AHS mehr als 70 Prozent der Schüler*innen Deutsch als Muttersprache haben. Natascha Khakpour folgert daraus, dass Kinder mit nicht deutscher Muttersprache schneller aus dem Schulsystem fallen und das Konzept „Du kannst kein Deutsch“ ein Stigma sein könne, das zu schlechteren Bildungschancen führt.
Ein weiterer wesentlicher Faktor für mehr Chancengleichheit beim Lernen sind für Khakpour Schulmodelle wie die Gesamtschule oder Ganztagsschulen. Sie berichtete von der Hamburger Schulreform im Jahr 2010. Per Volksentscheid wurde über eine Schulform entschieden, bei der sechs Jahre Primarschule vorgesehen waren. Die Abstimmung ging allerdings negativ aus, das Hamburger Modell wurde nicht angenommen. Für Khakpour zeigt sich an diesem Beispiel die politische Komponente von Bildungsthemen und sie hat auch darauf hingewiesen, dass bestimmte Gruppen von der Benachteiligung anderer profitieren. Das zeige sich zB wenn sich bei derartigen Abstimmungen oder Entscheidungen privilegierte Haushalt ganz eindeutig gegen die gemeinsame Beschulung von Kindern verschiedenster sozialer Klassen aussprechen.
Solche Beispiele würden sehr viel über das System Schule aussagen, unterstrich Khakpour. Schule stehe immer in Relation zur Gesellschaft. Die Idee, was gutes Deutsch ist, verwenden auch Lehrer*innen als Referenzrahmen, um Schüler*innen einzuordnen und zu zu überlegen, wer die guten Schüler*innen sind und wer auf das Gymnasium gehen darf.
Natascha Khakpour ist auch in der Lehrer*innenausbildung tätig. Sie hat darauf hingewiesen, dass Lehrer*innen meist ebenfalls dieser Form der Bewertung ausgesetzt sind. Das gehe soweit, dass es ein großes Thema sein könne, wie Lehrer*innen auszusehen hätten und welche Kleidungsstücke für sie angemessen seien. Bei der Frage, wer denn eigentlich Leherin oder Lehrer ist, dürfe nicht außer Acht gelassen werden, dass eine eher weiße, bildungsbürgerliche Gruppe hier sehr stark vertreten sei.
Zum Weiterlesen:
Informationen zur Forschungstätigkeit von Natascha Khakpour
Stellungnahme von Forschenden und Lehrenden des Bereichs Deutsch als Zweitsprache der Universitäten Graz, Innsbruck, Salzburg und Wien zum Bildungsprogramm 2017 bis 2022 der österreichischen Bundesregierung
Tobias Buchner
Tobias Buchner hat gleich zu Beginn seiner Ausführungen auf das Label „sonderpädagogischer Förderbedarf“ hingewiesen. Es handle sich dabei um eine bildungsadministrative Kategorie, die bestimmte Assoziationsketten aktiviere und auch Stereotype, wie denn jemand mit sonderpädagogischem Förderbedarf als Schüler*in sein müsse. Die Zweiteilung des österreichischen Schulsystems in Schüler*innen mit und Schüler*innen ohne sonderpädagigischen Förderbedarf definiert Buchner als „zentrale Barriere“. Daraus resultiere auch die Zweiteilung in Regelklassen und in Inklusionsklassen. Diese Teilung widerspreche aber ganz klar dem Inklusionsgedanken, wie er auch als Recht in der UN-Behindertenrechtskonvention verankert ist. In der Praxis bedeute das für die Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, dass sie einen Großteil der Unterrichtszeit räumlich getrennt von ihren Klassenkamerad*innen mit einer eigenen Lehrperson verbringen würden.
So wie Natascha Khakpour attestiert Tobias Buchner der Lehrer*innenbildung und -ausbildung einen hohen Stellenwert. Seiner Meinung nach sollte es kein Sonderschullehramt mehr geben, sondern eine Ausbildung, in der alle Lehrer*innen Inklusion lernen. Am Ende würden dann idealerweise alle Lehrer*innen alle Schüler*innen unterrichten. Natürlich müsse man dazu aber adäquate Ressourcen zur Verfügung stellen.
Ein weiterer wichtiger Begriff, den Tobias Buchner in die Debatte gebracht hat, ist der Segregationsquotient, der angibt, wieviele Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Sonderschulen sind. Dieser Quotient, der Auskunft darüber gibt, „wie wirkmächtig das Sonderschulregime noch ist“, werde seit einigen Jahren in den nationalen Bildungsberichten nicht mehr angeführt.
Insgesamt sie die Datenlage zu schulischer Inklusion in Österreich laut Buchner schlecht. Das sei auch für die schulische Praxis und die Situation von Kindern mit Behinderungen in Schulen ein großes Problem, denn „nur die zählen, die gezählt werden.“
Zum Schluss weist Tobias Buchner noch auf die Petition Inklusive Bildung Jetzt hin, die auch der Klagsverband unterstützt.
Theresa Hammer
Theresa Hammer ist die Leiterin der Rechtsdurchsetzung beim Klagsverband und betreut derzeit die erste Verbandsklage in Österreich nach dem Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz. Dabei geht es um das Recht auf bedarfsgerechte persönliche Assistenz für alle Schüler*innen mit Behinderungen in Bundesschulen. (Alle Informationen zur Verbandsklage finden Sie hier.)
Der Klagsverband arbeitet mit dem Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsrecht, betonte Theresa Hammer in ihrem Statement. Dieses Rechtsgebiet ist sehr stark zersplittert und lückenhaft. Es gibt Gesetze auf Bundes- und auf Landesebene. Zusätzlich ist das Schutzniveau bei Diskriminierung unterschiedlich. Im Bildungsbereich stelle sich weiters die Frage, welche Behörde zuständig ist und auch welches Dienstrecht für Lehrer*innen gilt. Das alles müsse geprüft werden, um zu beurteilen, ob der Klagsverband mit seinen Möglichkeiten, ein erfolgreiches Verfahren bei Diskriminierung im Bildungsbereich führen könne.
Wenn es um Diskriminierung von Schüler*innen gehe, müsse auch immer beurteilt werden, ob ein Verfahren für das individuelle Kind sinnvoll sei. Manchmal könne die benachteiligende Situation mit anderen Instrumenten schneller und effektiver verbessert werden. Allerdings sei so gut wie jeder Einzelfall Ausdruck von strukturellen Benachteiligungen, die somit adressiert werden können.
Mit der Verbandsklage sei es möglich, auf benachteiligende Strukturen hinzuweisen und sollte die Klage erfolgreich sein und der Rechtsanspruch auf persönliche Assistenz unabhängig von der Pflegestufe und der Art der Behinderung normiert werden, wäre das eine maßgebliche Verbesserung für sehr viele Schüler*innen mit Behinderungen.