Mit etwas Mut könnte die Novelle des Wohnungseigentumsgesetzes mehr Barrierefreiheit in Wohnungen und Häusern bringen.
Frau H. ist 72 und leidet an chronischem Rheuma. Die pensionierte Lehrerin lebt seit 35 Jahren in einem Mehrparteien-Haus in Salzburg. Ihre Rheuma-Schübe werden immer stärker und schränken sie immer mehr ein. Besonders schwierig ist für sie der Gang über eine Treppe in die Garage. Dort parkt ihr Auto, das sie braucht, um ihre Einkäufe zu machen. Mit den Einkäufen kommt sie ohne Hilfe einer Nachbarin aber nicht mehr über die Stiege und die schwere Tür, die das Wohnhaus vom Garagenbereich trennt, lässt sich ohne Hilfe auch nicht mehr öffnen.
Frau H. setzt sich deshalb in der Eigentümer_innen-Versammlung dafür ein, den Lift der Wohnanlage bis in die Garage zu erweitern und eine automatische Tür einzubauen. Die Eigentümer_innen stimmen dem Vorschlag zu und machen weitere Vorschläge für mehr Barrierefreiheit im Haus. Fast alle erwarten sich davon mehr Lebensqualität: Frau S. ist schwanger und hat sich schon die ganze Zeit gefragt, wie sie später mit dem Kinderwagen in die Garage kommen soll. Herr E. spielt schon seit Langem mit dem Gedanken, seine pflegebedürftige Mutter zu sich zu holen, die aber als Rollstuhlnutzerin in dem Haus nicht zurecht kommen würde.
Barrierefreiheit bedeutet mehr Lebensqualität für alle
Eine erfundene Geschichte? Ja, definitiv. Trotzdem ist es eine Tatsache, dass alle Menschen von Barrierefreiheit profitieren. Für zehn Prozent der Bevölkerung ist sie laut Wirtschaftskammer Österreich essenziell, für 40 Prozent notwendig. So wie Herr E. wünschen sich 51 Prozent der Menschen in Österreich, dass sie selber im Alter zuhause gepflegt werden können. Allerdings geben laut einer Studie von Gfk Austria nur 13 Prozent der Haushalte in Österreich an, dass ihre Wohnung oder ihr Haus barrierefrei ist.
Durch WEG-Novelle Menschenrecht auf barrierefreies Wohnen verwirklichen
Die Zahlen stehen also in krassem Widerspruch zur Lebensrealität der österreichischen Bevölkerung. Wie in vielen Bereichen unseres Lebens können Gesetze hier Rahmenbedinungen schaffen, um Bedürfnisse und Realität aneinander anzugleichen. Was das Wohnungseigentumsgesetz (WEG) betrifft, dass derzeit in der Begutachtung ist, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt um diese Bedingungen zu schaffen und damit auch das Menschenrecht auf barrierefreies Wohnen zu verwirklichen.
In seiner Stellungnahme zur Novelle des Wohnungseigentumsgesetzes hat der Klagsverband deshalb folgende Änderungen vorgeschlagen:
Solidarische Übernahme der Kosten
Barrierefreiheit kostet, das ist ein Fakt. Besonders durch das nachträgliche Umrüsten von Wohnraum entstehen Kosten. Wenn Frau H., Frau S. oder Herr E diese Kosten alleine tragen müssen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das Projekt Barrierefreiheit scheitert. Wenn die Kosten auf alle Eigentümer_innen aufgeteilt werden, ist die Chance allerdings sehr hoch, dass Frau H. ihre Einkäufe weiter selbständig mit dem Auto erledigen kann, Frau H. mit dem Kinderwagen in die Garage kommt und Herr E. seine Mutter zu sich holen kann. Der Klagsverband plädiert deshalb dafür, jene Kosten, die entstehen, wenn allgemeine Teile eines Hauses oder einer Wohnanlage barrierrefrei gestaltet und erhalten werden müssen, von allen anteilig getragen werden. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass jene Eigentümer_innen, die Barrierefreiheit wollen, dies selber bezahlen müssen. Das lehnt der Klagsverband ab, weil es unsolidarisch ist und auch den Menschenrechten widerspricht.
Weiters sollten die angemessenen Rücklagen nicht nur für Sanierungen und Instandhaltungsarbeiten gebildet werden, sondern auch für Maßnahmen, die zu Barrierefreiheit führen.
Menschenrechtliche Verpflichtungen
Barrierefreiheit ist kein Wohlfühl-Thema oder ein Akt der Gnade für Menschen mit Behinderungen. Vielmehr ist es ein Recht, selbstbestimmt und gleichberechtigt teilhaben zu können und zwar in allen Bereichen der Gesellschaft. Die rechtlichen Grundlagen liegen hier in der UN-Behindertenrechtskonvention und der österreichischen Verfassung. Erstere ist ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen Österreich und den Vereinten Nationen. Die UN-Behindertenrechtskonvention garantiert Menschen mit Behinderungen „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten“. In Artikel 9 wird näher erläutert, was das für das Recht auf selbstbestimmtes Wohnen bedeutet. Dort heißt es, „… dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben.“
Auch aus der österreichischen Verfassung lässt sich ableiten, dass Menschen in allen Lebensbereichen gleichbehandelt werden müssen. Nachdem das Baurecht der Länder große Lücken im Bereich Barrierefreiheit hat, muss der Anspruch auf barrierefreies Wohnen umso mehr auf Ebene der Bundesgesetze ermöglicht werden. Betroffen sind hier neben dem Wohnungseigentumsgesetz, das Mietrechtsgesetz (MRG) und das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz (WGG).
Was ist nun aber, wenn jemand im Haus von Frau H., Frau S. und Herrn E. dagegen ist, die notwendigen Adaptierungen in der Garage durchführen zu lassen? Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass dies möglich sein soll. Der Klagsverband allerdings ist der Ansicht, dass dies nur aus sehr gewichtigen Gründen passieren darf und nicht weil zB jemand die Optik des Gebäudes durch eine Rampe beschädigt sieht.
Wohnen ist ein Grundbedürfnis aller Menschen. Für Menschen mit Behinderungen ist das Recht auf barrierefreies Wohnen und die Wahlmöglichkeit, wo sie wohnen wollen, die Grundlage für gleichberechtigte Teilhabe. Und für Frau H., Frau S. und Herrn E. könnte eine mutige Novelle des Wohnungseigentumsgesetzes mehr Lebensqualität und die Aussichten auf ein Altern in Würde bedeuten.