Im Salzburger Menschenrechts-Bericht 2023 lassen wir unsere gewonnenen Gerichtsverfahren des letzten Jahres Revue passieren. Hier lesen Sie Artikel 5 von 5 aus dem Menschenrechts-Bericht der Plattform Menschenrechte Salzburg.
Österreich muss Diskriminierung von Schüler*innen mit Behinderungen Beenden – Klagsverband erwirkt 1. Verbandsklage-Urteil
In Österreich werden Schüler*innen mit Behinderungen beim Bildungszugang diskriminiert. Denn derzeit gibt es Persönliche Assistenz für den Besuch von Bundesschulen nur für Schüler*innen mit körperlichen Behinderungen und einer hohen Pflegegeldstufe. Das diskriminiert Schüler*innen mit anderen Behinderungen, die ebenfalls auf Unterstützung angewiesen sind. Der Klagsverband führte deshalb die 1. Verbandsklage nach dem Behindertengleichstellungsgesetz – und bekam Recht. Die Republik Österreich und der Bildungsminister sind nun gefordert Schüler*innen mit Behinderungen einen nicht-diskriminierenden Bildungsgang zu ermöglichen, schreiben Theresa Hammer und Paul Haller.
Nach einem gescheiterten Schlichtungsversuch mit dem Bildungsministerium reichte der Klagsverband im Juli 2021 Klage gegen die Republik ein. Denn auf Basis eines Rundschreiben des Bildungsministeriums werden Kinder und Jugendliche mit Behinderungen diskriminiert, wie das Wiener Handelsgericht feststellte. Es ist in Österreich die erste und bisher einzige Verbandsklage nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG). In Folge des rechtskräftigen Urteils hat das Bildungsministerium eine diskriminierungsfreie Neuregelung der Unterstützung an Bundesschulen angekündigt.
Die Verbandsklage ist eine spezielle Klagemöglichkeit nach dem Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG). Wird gegen das BGStG verstoßen und werden dadurch allgemeine Interessen von Menschen mit Behinderungen wesentlich und dauerhaft beeinträchtigt, kann mittels Verbandsklage dagegen vorgegangen werden. In der Regel erfordert das Diskriminierungsrecht eine Klage einer konkret betroffenen Person – mittels Verbandsklage können hingegen strukturelle Diskriminierungen losgelöst vom Einzelfall aufgezeigt und damit der Weg für eine künftige gleichstellungskonforme Lösung bereitet werden. Unterstützt wurde die Verbandsklage des Klagsverbands von Anfang an von mehreren Mitgliedsorganisationen: BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben, der Blinden- und Sehbehindertenverband BSVÖ, Integration Tirol, Integration Wien, Selbstbestimmt Leben Österreich und Selbstbestimmt Leben Innsbruck sowie von weiteren solidarischen Vereinen und Einzelpersonen.
Persönliche Assistenz verschafft Selbstbestimmung Das BGStG hat zum Ziel, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen oder zu verhindern. Es soll die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen. Eine Diskriminierung liegt auch vor, wenn notwendige und zumutbare Vorkehrungen, die diese gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen würden, nicht getroffen werden. Ohne eine bedarfsgerechte Assistenz können viele Kinder und Jugendliche mit Behinderung nicht gleichberechtigt am Schulleben teilnehmen. Derzeit gibt es diese Unterstützung für den Besuch von Bundesschulen (zum Beispiel AHS und BHS) nicht für alle Schüler*innen mit Behinderungen, sondern nur wenn eine körperliche Behinderung ab einer Pflegegeldstufe 5 (in Ausnahmefällen ab Stufe 3) vorliegt. Schüler*innen mit anderen Behinderungen, zum Beispiel aus dem Autismus-Spektrum oder mit einer Sinnesbehinderung, haben keinen Anspruch auf diese Form der Unterstützung. Oft gibt es auch keine andere geeignete Unterstützung, so dass sie auf eine Sonderschule oder eine Mittelschule ausweichen müssen.
„Auch sinnesbehinderte Personen haben das Recht auf Chancengleichheit in der Bildung. Manchmal kann diese Chancengleichheit nur mit Persönlicher Assistenz ermöglicht werden. Es handelt sich dabei also nicht um Luxus, sondern um eine Notwendigkeit. Als größte Organisation für blinde und sehbehinderte Menschen in Österreich freut es den BSVÖ, dass hier nun erste Erfolge vor Gericht erwirkt werden konnten”, sagt Markus Wolf, Präsident des Blinden- und Sehbehinderten- verbandes Österreich unmittelbar nach der Veröffentlichung des Urteils zur Verbandsklage.
Rechtliche Aussagen
Das Gericht stellt fest: Die Republik Österreich diskriminiert Schüler*innen mit Behinderung. Der Ausschluss von bestimmten Gruppen von Schüler*innen mit Behinderungen von Assistenzleistungen auf Basis des Rundschreibens des Bildungsministeriums von Oktober 2021 ist diskriminierend. Dazu zählen unter anderem Schüler*innen im Autismus-Spektrum sowie Schüler*innen mit Sinnesbehinderungen. Es handelt sich um mehrere Verstöße gegen das Diskriminierungsverbot nach dem BGStG:
- Österreich diskriminiert Schüler*innen mit Behinderungen mit geringer Pflegestufe, die von Assistenzleistungen ausgeschlossen werden. Das betrifft auch die jetzt schon umfassten Schüler*innen mit körperlicher Behinderung.
- Österreich diskriminiert Schüler*innen mit anderen Behinderungen, darunter Kinder und Jugendliche aus dem Autismus-Spektrum oder Schüler*innen mit Sinnesbehinderungen, die von Assistenzleistungen ausgeschlossen werden.
- Österreich diskriminiert Schüler*innen mit Behinderungen bei der Teilnahme an Unterrichts- und Schulveranstaltungen. Schüler*innen mit Behinderungen können diese nicht diskriminierungsfrei besuchen, da Freistunden und befreite Unterrichtsfächer nach wie vor von der Persönlichen Assistenz ausgenommen sind. In einem früheren Rundschreiben des Bildungsministeriums von 2017 waren zudem mehrtägige Schulveranstaltungen ausgenommen, was ebenso als Diskriminierung erkannt wird.
- Persönliche Assistenz ist ein geeignetes Mittel, um gleichberechtigte Teilhabe an Schulbildung zu ermöglichen. „Persönliche Assistenz verschafft den betroffenen Schüler*innen Selbstbestimmung“, heißt es dazu im Urteil.
Der Bildungsminister hat eine Umsetzung des Urteils angekündigt. Es wird an einem neuen Rundschreiben gearbeitet. Für betroffene Schüler*innen und ihre Familien ist es essentiell, dass dieses politische Versprechen auf Selbstbestimmung und gleichberechtigten Bildungszugang nun rasch in der Praxis ankommt.
von Theresa Hammer und Paul Haller
Hier lesen Sie den ganzen Menschenrechts-Bericht 2023 der Plattform Menschenrechte Salzburg.