Hier lesen Sie die gemeinsame Presseaussendung des Klagsverbands und des Unabhängigen Monitoringausschusses vom 15.11.2023.
Klagsverband: Bildungsminister hebt diskriminierendes Rundschreiben auf, Erlass bringt Verbesserungen für Schüler*innen mit Behinderungen
Klagsverband und Monitoringausschuss begrüßen die Neuregelung der Persönlichen Assistenz an Bundesschulen – weitere Maßnahmen notwendig
Wien (OTS) – „Ich freue mich über das Einlenken des Bildungsministers und die Neuregelung der Persönlichen Assistenz an Bundesschulen. Damit ist zumindest eine Grundlage geschaffen, damit Schüler*innen mit einer Sinnesbehinderung oder im Autismus-Spektrum nicht mehr von vornherein von bedarfsgerechter Persönlicher Assistenz ausgeschlossen werden“, freut sich Theresa Hammer, fachliche Geschäftsführerin und Leitung der Rechtsdurchsetzung des Klagsverbands. Der Erlass des Bildungsministers sei eine direkte Folge der Verbandsklage des Klagsverbands gegen die Republik. Im März 2023 hat das Wiener Handelsgericht Diskriminierung nach dem Behindertengleichstellungsgesetz festgestellt. Etliche Schüler*innen waren bisher von Persönlicher Assistenz ausgeschlossen. Bildungsminister Polaschek hat nun mit September eine neue Regelung erlassen, diese jedoch bisher nicht breit veröffentlicht. „Beratungsstellen und betroffene Familien müssen von diesen neuen Möglichkeiten wissen, sonst kommt es wieder zu diskriminierenden Ausschlüssen. Und die Bildungsdirektionen und Schulen sind auf Basis des neuen Erlasses nun gefordert, tatsächlich für bedarfsgerechte Unterstützungsmöglichkeiten zu sorgen“, so Hammer.
„Von einem inklusiven Bildungssystem, wie es die UN-Behindertenrechtskonvention fordert, sind wir trotz der Besserung im Bereich der Persönlichen Assistenz an Bundesschulen aktuell weit entfernt. Der Erlass wird vom Unabhängigen Monitoringausschuss begrüßt, diesem Schritt müssen nun dringend weitere Maßnahmen des Bildungsministeriums folgen“, sagt Tobias Buchner vom Unabhängigen Monitoringausschuss und verweist auf die Ergebnisse der Staatenprüfung Österreichs im vergangenen Sommer. „Österreich muss umgehend damit beginnen, das Sonderschulsystem aufzulösen und die frei werdenden Ressourcen für die Verbesserung der inklusiven Bildung an Regelschulen zu nutzen. Dafür braucht es eine landesweite Strategie, die von Bund und allen Ländern konsequent umgesetzt werden muss“, fordert Buchner abschließend.
Rückfragehinweis:
Klagsverband
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Paul Haller, BA BA MA
+43 660 9023520
paul.haller@klagsverband.at
www.klagsverband.at
Unabhängiger Monitoringausschuss
Presse- & Öffentlichkeitsarbeit
Heidemarie Egger
+43 670 657 83 67
heidemarie.egger@monitoringausschuss.at
www.monitoringausschuss.at
Hintergrund und häufige Fragen
Nach einem gescheiterten Schlichtungsversuch mit dem Bildungsministerium reichte der Klagsverband im Juli 2021 Klage gegen die Republik ein. Es ist in Österreich die erste und bisher einzige Verbandsklage nach dem Behindertengleichstellungsgesetz. Das Wiener Handelsgericht folgte dem Klagsverband in allen drei Punkten und stellte im Urteil vom 31. März 2023 eine Diskriminierung nach dem Behindertengleichstellungsgesetz fest. Das Urteil ist rechtskräftig. Der Bildungsminister versprach im April eine rasche Umsetzung des Urteils.
Was war das Problem?
Ohne eine bedarfsgerechte Assistenz können viele Kinder und Jugendliche mit Behinderung nicht gleichberechtigt am Schulleben teilnehmen. Bislang gab es diese Unterstützung für den Besuch von Bundesschulen (also zum Beispiel AHS und BHS) nicht für alle Schüler*innen mit Behinderungen, sondern nur wenn eine körperliche Behinderung ab einer Pflegegeldstufe 5 (in Ausnahmefällen ab Stufe 3) vorlag. Schüler*innen mit anderen Behinderungen, also zum Beispiel aus dem Autismus-Spektrum oder mit einer Sinnesbehinderung, hatten keinen Anspruch auf diese Form der Unterstützung. Oft gab es auch keine andere geeignete Unterstützung, so dass sie auf eine Sonderschule oder eine Mittelschule ausweichen mussten.
Welches Rundschreiben wurde aufgehoben?
Mit dem neuen Erlass hebt der Bildungsminister das Rundschreiben Nr. 22/2021 auf. Dieses regelte bislang die Gewährung für Persönliche Assistenz an Bundesschulen. Auf Basis des Rundschreibens wurden etliche Schüler*innen mit Behinderungen von Persönlicher Assistenz ausgeschlossen. Das verstößt gegen das Diskriminierungsverbot im Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG), wie das Wiener Handelsgericht im Urteil zur Verbandsklage des Klagsverbands feststellte.
Was ist neu an dem Erlass des Bildungsministers?
Wichtige Verbesserungen und Änderungen umfassen:
- Sinnesbehinderung oder „niedrige Pflegegeldstufe“ sind kein Ausschlusskriterium mehr für Persönliche Assistenz: Schüler*innen mit Behinderungen können Persönliche Assistenz nun unabhängig von der Behinderung und der Pflegegeldstufe in Anspruch nehmen. Nach Wortlaut des Erlasses und Auskunft des Bildungsministeriums ist die Persönliche Assistenz nun grundsätzlich unabhängig von Art der Behinderung oder Pflegegeldstufe möglich, sofern sie sich als geeignetes Unterstützungs- und Teilhabemittel für die individuellen Schüler*innen herausstellt. Schüler*innen mit einer Sinnesbehinderung, einer psychosozialen Behinderung oder einen niedrigen Pflegegeldstufe werden damit nicht mehr von Vornherein von Persönlicher Assistenz ausgeschlossen.
- Persönliche Assistenz bei Wegzeiten: Der Erlass sieht keine zeitliche Einschränkung der Persönlichen Assistenz für Wegzeiten vor. Zuvor war die Wegzeit auf „höchstens 30 Minuten vor dem Unterricht und 30 Minuten nach dem Unterricht“[1] beschränkt, was in der Praxis oft nicht möglich war. Aus Sicht des Klagsverbands muss die tatsächliche Wegzeit anerkannt werden, sodass Schüler*innen stressfrei und sicher die Schule besuchen können.
- Persönliche Assistenz in Freistunden: Schüler*innen mit Behinderungen können nun Persönliche Assistenz auch für in der Schule verbrachte Freistunden in Anspruch nehmen. Im alten Rundschreiben waren Freistunden noch ausgenommen. Freistunden entstehen in der Praxis zum Beispiel aufgrund der Stundeplangestaltung oder im Falle einer Befreiung von einem Unterrichtsgegenstand. Zeiträume, in denen Schüler*innen mit Behinderungen zwar keinen Unterricht haben, aber dennoch in der Schule anwesend sein müssen, sind damit nicht von Vornherein ausgenommen.
- Persönliche Assistenz bei mehrtägigen Schulveranstaltungen: Nach der alten, noch vor 2021 geltenden, Regelung konnten Schüler*innen mit Behinderungen keine Persönliche Assistenz für mehrtätige Schulveranstaltungen in Anspruch nehmen. Der neue Erlass sieht diese Einschränkung nicht mehr vor.
- Keine Unterscheidung zwischen pflichtigem und nichtpflichtigem Unterricht: Im nun aufgehobenen Rundschreiben wurde zwischen pflichtigem und nichtpflichtigem Unterricht unterschieden. Für nichtpflichtigen Unterricht wurde keine Persönliche Assistenz gewährt. Diese Unterscheidung ist nun aufgehoben.
- Im neuen Erlass ist neben der Persönlichen Assistenz nun auch ein parallel laufendes Projekt zur fachlich qualifizierten Schulassistenz für Schüler*innen aus dem Autismus Spektrum geregelt, dieses kann in der Praxis mit lediglich 8-12 Wochenstunden oft nicht den Bedarf betroffener Schüler*innen decken. Des weiteren sieht der Erlass die Rahmenbedingungen für Gebärden- und Schriftdolmetsch für gehörlose und schwerhörige Schüler*innen vor.
Im Einzelfall bleibt abzuwarten, ob es immer zu diskriminierungsfreier und bedarfsgerechter Unterstützung kommen wird.
Wieviele Schüler*innen sind betroffen?
Das Wiener Handelsgericht bestätigte mit dem Verbandsklage-Urteil, dass die im Verfahren vorgebrachten Diskriminierungsfälle keine Einzelfälle sind, sondern auf eine strukturelle Diskriminierung von Schüler*innen mit Behinderungen schließen lassen. Der Klagsverband geht davon aus, dass österreichweit zumindest einige hundert Kinder und Jugendliche mit Behinderung beim Zugang zu Assistenzleistung diskriminiert wurden, und daher nicht diskriminierungsfrei am Unterricht teilnehmen oder mangels Unterstützung eine gar nicht besuchen konnten. Das sollte jetzt besser möglich sein.
Was sagen Beratungsstellen dazu?
„Für uns ist es eine große Erleichterung, dass wir nun einer größeren Zielgruppe neue Bildungschancen aufzeigen können. Gerade für Kinder im Autismus-Spektrum bringt der Erlass wesentliche Verbesserungen. Es ist wichtig, dass das Bildungsministerium die breite Öffentlichkeit über die neuen Möglichkeiten bei der Persönlichen Assistenz an Bundesschulen aktiv informiert. Nur so können Familien und Angehörige überhaupt erst auf die Idee kommen, Persönliche Assistenz zu beantragen“, erklärt Sonja Tollinger, Obfrau von Integration Tirol. Der Verein berät Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen.
Was sagt die UN-Behindertenrechtskonvention? (siehe Empfehlungen des UN-Fachausschusses auf nächster Seite)
Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert in Artikel 24 die Vertragsstaaten dazu auf ein inklusives Bildungssystem zu gewährleisten. Österreich hat die Konvention bereits 2008 ratifiziert. Der Unabhängige Monitoringausschuss zur Überwachung der Umsetzung der UN-BRK, ebenso wie Selbstvertretungsorganisationen, kritisiert fehlende Maßnahmen im Bereich inklusive Bildung Das wurde bei der Staatenprüfung Österreichs im Sommer 2023 auch vom UN-Fachausschuss als großes Menschenrechtsdefizit in Österreich festgestellt (siehe Pkt. 3 nächste Seite).
Was ist eine Verbandsklage nach dem Behindertengleichstellungsgesetz?
Die Verbandsklage ist eine Klagemöglichkeit nach dem Behindertengleichstellungsgesetz. Das Gesetz hat zum Ziel, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen oder zu verhindern. Es soll die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen. Wird gegen das Behindertengleichstellungsgesetz verstoßen und dadurch das allgemeine Interesse von Menschen mit Behinderungen wesentlich und dauerhaft beeinträchtigt, kann mittels Verbandsklage dagegen vorgegangen werden.
Wer kann eine Verbandsklage einbringen?
Das Behindertengleichstellungsgesetz regelt, wer eine Verbandsklage einbringen kann: der Österreichische Behindertenrat, der Klagsverband zur Durchsetzung der Rechte von Diskriminierungsopfern und der Behindertenanwalt bzw. die Behindertenanwältin. (§13 BGStG)
Handlungsempfehlungen: Inklusive Bildung
(Zusammenfassung des Unabhängigen Monitoringausschusses)
Die Handlungsempfehlungen sind die abschließenden Bemerkungen und Empfehlungen, die vom UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen erstellt werden. Österreich muss alle vier Jahre einen Fortschrittsbericht an den UN-Fachausschuss senden. Auf Basis dieser Berichte wird überprüft, wie gut Österreich die UN-Behindertenrechtskonvention umsetzt. Der UN-Fachausschuss veröffentlichte im September 2023 seine Handlungsempfehlungen zum kombinierten zweiten und dritten Staatenbericht Österreichs. Diese Zusammenfassung des Unabhängigen Monitoringausschusses umfasst die wichtigsten Aspekte dieser Handlungsempfehlungen des UN-Fachausschuss:
Inklusives Bildungssystem (Artikel 24)
Keine Segregation: Österreich sollte sich umgehend von getrennten Bildungssystemen verabschieden und stattdessen eine landesweite Strategie für inklusive Bildung entwickeln.
Ausbildung von Lehrer*innen: Lehrer*innen sollten besser ausgebildet werden, um Schüler*innen mit Behinderungen zu helfen. Es muss sichergestellt werden, dass diese Schüler*innen optimale Unterstützung erhalten.
Außerschulische pädagogische Betreuung: Zugänglichkeit muss auch für Schüler*innen mit Behinderungen gewährleistet sein.
Einklagbare Rechte für inklusive Bildung: Menschen sollten das Recht haben, inklusive Bildungseinrichtungen zu besuchen.
Österreichische Gebärdensprache: Die Österreichische Gebärdensprache sollte im Bildungsbereich anerkannt und genutzt werden.
Daten zu Inklusiver Bildung: Es müssen zuverlässige Daten zur inklusiven Bildung gesammelt werden.
[1] Seite 4, Rundschreiben Nr. 22/2021, BMBWF, Geschäftszahl: 2021-0.108.600
Weitere Presseaussendungen
Behindertenanwaltschaft, 15.11.2023, Persönliche Assistenz im Bildungsbereich: Der neue Erlass des Bildungsministeriums ist nur ein erster Schritt
BIZEPS – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben, 15.11.2023, BIZEPS: Bekommen Schüler:innen mit Behinderungen zukünftig ausreichend Unterstützung?
FPÖ – Ragger, 16.11.2023, „Jedes Schulkind mit Behinderung hat Recht auf volle Inklusion“
Medienberichte
Folgende Medien haben darüber berichtet:
APA Science, 15.11.2023, Erlass bringt mehr Unterstützung für behinderte Schüler
Die Presse, 15.11.2023, Neuer Erlass bringt Besserungen für Schüler mit Behinderung
Salzburger Nachrichten, 15.11.2023, Erlass bringt mehr Unterstützung für Schüler mit Behinderung
Vorarlberger Nachrichten, 15.11.2023, Erlass bringt mehr Unterstützung für behinderte Schüler
Tiroler Tageszeitung, 15.11.2023, Erlass bringt mehr Unterstützung für behinderte Schüler
Vienna.at, 15.11.2023, Neuer Erlass inkludiert mehr Schüler mit Behinderung bei Unterstützung
Puls24.at, 15.11.2023, Erlass bringt mehr Unterstützung für behinderte Schüler
Österreichischer Behindertenrat, 15.11.2023, Persönliche Assistenz im Bildungsbereich